Das innere Kind
In uns allen lebt ein Kind, das nie erwachsen wird.
Oder besser gesagt: In uns leben viele kindliche Persönlichkeitsanteile, in jedem kindlichen Alter eins. Jeder Anteil an sich wiederum hat viele verschiedene Aspekte: einen verspielten, einen ausgelassenen, einen schüchternen, einen geliebten, einen ungeliebten, einen vernachlässigten und viele mehr. Das innere Kind ist ein vereinfachter Begriff für eine komplexe kindliche innere Welt, die in jedem von uns existiert. Ganz vereinfacht gesagt: Unter dem inneren Kind verstehe ich den Teil unseres Wesens, der emotional und verletzlich ist.
Über das innere Kind wurden viele Bücher veröffentlicht* und man kann dazu tatsächlich endlos viele Kapitel schreiben, denn wie gesagt, steht der Begriff “inneres Kind” für sehr komplexe innere Welten.
Ich werde hier also nur recht allgemein auf das innere Kind eingehen und versuchen, das Wesentliche zusammenzufassen.
Hilfreich für mich ist folgendes Bild: Wir werden geboren als rein verletzliches Wesen, das auf die liebevolle Fürsorge des Umfeldes vollkommen angewiesen ist. Mit jedem Jahr entwickeln wir mehr Fähigkeiten, mit denen wir uns im Leben behaupten können. Sie wachsen um unseren verletzlichen Wesenskern herum, wie die Jahresringe eines Baums. Der innere Kern jedoch existiert nach wie vor und wird nie verschwinden. Alle Erfahrungen und Gefühle des Säuglings sind in ihr gespeichert, ebenso wie die Erfahrungen des Kleinkindes, größeren Kindes, vorpubertären Kindes und Jugendlichen in den Ringen gespeichert sind, die darum herum gewachsen sind.
Dieser Prozess des Wachstums hört natürlich nie auf, auch nicht wenn wir erwachsen sind. Ich konzentriere mich aber auf das Kind, dass wir einmal waren, da wir als Erwachsene nach wie vor das “Produkt” unserer Kindheit sind. Hier entsteht die Persönlichkeit, mit der wir uns heute im Leben behaupten, mit der wir leben, lieben, hassen, Beziehungen führen, arbeiten und uns leider auch oft herumschlagen ;).
Die Entwicklung vom Säugling oder sogar Kind im Mutterleib bis zum wirklich ganzheitlich gesunden Erwachsenen hat sich bei den wenigsten unter uns ungestört vollziehen können. Häufig waren unsere Eltern damit überfordert, uns auf diesem Weg in Allem sowohl körperlich als auch geistig und emotional liebevoll zu unterstützen. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass auch sie einmal Kinder waren mit vielleicht ebenso überforderten Eltern.
Die Arbeit mit dem inneren Kind
Warum nimmt das innere Kind eine so zentrale Rolle in der psychologisch therapeutischen Arbeit ein?
Diese Arbeit setzt genau da an, wo die unzähligen Leiden der Seele und ihre körperlichen Folgen ihren Ursprung haben, und zwar in den Verletzungen des Kindes.
Depression, Sucht, Beziehungsleid, psychosomatische Beschwerden, Ängste und Phobien haben dort ihre Wurzeln. Das Kind, das verwahrlost wurde, lebt nach wie vor in uns. Auch heute noch braucht es die emotionale Zuwendung, die es damals gebraucht hätte und die so häufig gefehlt hat. Es braucht einen liebevollen sicheren Raum, wo es sich zeigen kann mit allen Gefühlen, die auf dem Weg des Erwachsenwerdens als “falsch” registriert wurden und versteckt, verleugnet und tief vergraben werden mussten. Es braucht einen Raum, wo nichts erwartet wird, aber alles sein darf, wo weder gewertet noch rationalisiert wird. Nur innerhalb eines solchen Raums kann unser verletzliches Selbst Vertrauen fassen und unser erwachsenes Selbst erfahren, was es braucht um gedeihen zu können. Alte Verletzungen können aufgedeckt und liebevoll gepflegt werden. Damit vollzieht sich eine Entwicklung, die in der Kindheit schwer möglich war: Wir lernen uns zu lieben und werden damit liebesfähig. Wenn uns die Verbindung mit dem verletzlichen Wesenskern fehlt, bleibt unser Wesen fragmentiert. Wir können kein ganzer Mensch werden, keine wirklich gesunden Beziehungen führen, auch nicht, wenn wir theoretisch genau wissen, wie das geht.
*Empfehlenswerte Bücher zu diesem Thema sind beispielsweise “Die Aussöhnung mit dem inneren Kind” von Erika J. Chopich, Margaret Paul oder “Das Kind in uns” von John Bradshaw